5
Dezember
2017

Es war einmal…

Es war einmal hoch im Norden, wo die Rentiere Zimtschnecken und Milch zum Frühstück genießen, ein kleines Mädchen. Seine braunen Locken tänzelten freudig um seine roten Wangen, ebenso wie es selbst heiter durch das kunterbunte Herbstlaub sprang. An jenem Herbsttag bemühte sich die Sonne besonders, noch vor dem Jahreszeitenumbruch, ein letztes Mal kräftig die farbenprächtigen Baumkronen golden zu bescheinen, denn es handelte sich schließlich nicht um irgendeinen herkömmlichen Morgen. Das kleine braungelockte Mädchen feierte einen ganz besonderen Herbstbeginn. Es war der Start in eine neue Lebensphase. Alle Jahre wieder, klopfte der erste Schultag an die bunten Eingangstüren hoch im Norden, sowie auch an die zitronengelbe Holztür des kleinen Mädchens.

Schüchtern setzte sich das kleine Mädchen auf einen freien Stuhl, im passend zur Jahreszeit herbstlich dekorierten Klassenzimmer. So unscheinbar es auch wirken wollte, es spürte die neugierigen Blicke der anderen Mädchen und Buben auf seiner gepunkteten Wolljacke haften. Vorsichtig ließ es seinen Blick durch die Sitzreihen schweifen. Rundum befanden sich strohblonde junge Wesen, die fasziniert auf den braunen Lockenkopf starrten. Während viele unschuldige, aufgeregte und neugierige Blicke durch das Klassenzimmer flogen und an den Wänden hochschossen und unter den Stühlen durchhuschten, betrat ein stattlicher Mann den Raum. Er trug einen smaragdgrünen Zylinder am Kopf, eine farblich abgestimmte Fliege um den Hals und eine Gitarre aus feinem Zedernholz unter dem Arm. Motiviert und heiter stimmte er das Lied vom Anderssein an. Fröhlich sang er lauthals Strophe für Strophe den jungen Wesen vor, bis alle die letzte Strophe, durch das Klassenzimmer tanzend, sangen.

„Im Land der Buntgemischten, sind alle bunt gemischt. Und wenn ein Gelbgetupfter das bunte Land auffrischt. Dann rufen Buntgemischte „Willkommen hier im Land“. Hier können wir gemeinsam leben, wir reichen uns die Hand.“ märchen bild

Von diesem Tag an liebte das kleine Mädchen die Schule. Aufgeregt erzählte es zu Hause bei der täglichen Zimtschnecken- und Milchjause von den ersten Unterrichtsstunden, von den Pausengesprächen, von der sanften Zedernholz Gitarre, von der smaragdgrünen Fliege und sang im Herbstlaub springend das Lied vom Anderssein. Von diesem Tag an zog Jahr für Jahr der Herbstwind über das Land hoch im Norden und mit ihm klopfte der Schulbeginn an die zitronengelbe Holzeingangstür des kleinen Mädchens, welches von Herbsttanz zu Herbsttanz reifer wurde, wessen braune Locken von Jahreszeit zu Jahreszeit länger und kräftiger wurden. Über die Zeit wurde aus dem kleinen braungelockten jungen Wesen ein scharfsinniges, einfühlsames und aufgewecktes Fräulein, das selbst in der höheren Schule stets fleißig und wissbegierig den Worten der Lehrenden folgte.

Eines Tages, als das junge Fräulein in dieser besagten höheren Schule über den Schulhof schritt, erspähte es unter einem tannengrünen Nadelbaum eine junge Frau, die einsam in ein koboldblaugebundenes Buch starrte. Vorsichtig tastete es sich an die junge Frau heran und fragte nach ihrem Wohlbefinden. Bald schon kullerten dicke Tränen über die fahlen Wangenknochen der jungen Frau, denn sie fühlte sich fremd und nicht zugehörig. Das junge Fräulein erinnerte sich an seinen allerersten Schultag, der Tag an dem die Sonne golden durch die Baumkronen blinzelte und stimmte das Lied vom Anderssein an. Wenig später waren die Tränen getrocknet und gemeinsam trafen sie sich im Vorgarten und genossen Zimtschnecken und Milch mit den Rentieren. Ein anderes Mal gab es Fisch und Weißbrot als Abendbrot bei der jungen Frau zu Hause. Sie stammte aus dem höchsten Norden, dort wo man die Wolfshunde vor den Schlitten spannte und der Nordwind Eiskristalle auf den Baumkronen hinterließ. Eine tiefgründige Freundschaft wurde entfacht, eine solche, von der man nachsagt, dass man gemeinsam durch Sonne und Regen tanzt.

An einem rauen Wintertag fegte der eisige Nordwind durchs Land und der Platz neben dem jungen Fräulein blieb unbesetzt. Sorgenvoll stapfte es durch die Wälder zum kleinen Häuschen am See, um nach seiner Freundin zu sehen. Dort angekommen kam ihm die junge Frau, abermals von Tränen überströmt entgegen. Mogli war ein junger, verspielter Wolfshund. Er bewachte die Träume der jungen Frau, teilte mit ihr Fisch und Weißbrot zum Frühstück, entdeckte mit ihr die Wälder und Waldlichtungen und plantschte in den milden Sommermonaten mit ihr im Bergsee. Mogli war der beste Gefährte der jungen Frau und kam eines Tages von seinem Streifzug nicht zurück. Seither blieb er verschollen. Tröstend setzte sich das junge Fräulein an die Seite der jungen Frau und wusste, das Lied vom Anderssein würde Mogli nicht zurückbringen. Nun denn, brachte sie einen Vorschlag hervor. Es erzählte von der geheimnisvollen Tür im ersten Stock im Schulgebäude, hinter jener sich eine zauberhafte Traumtänzerin befinden sollte. Legenden zufolge, höre sie allen jungen Wesen, die etwas auf dem Herzen haben zu. Sie besäße die Gabe des Daseins, das Geschick des Zuhörens und weiter noch bringe sie mit der Redekunst traurige Herzen wieder zum Tanzen.

Also beschlossen die jungen Freundinnen, einen Blick hinter diese sagenumwobene Tür zu werfen und lernten die Traumtänzerin kennen. Sie trug eine buntgestreifte Leinenhose und in ihrem verknoteten Haar steckten kunterbunte Frühlingsblumen. Ihr Lächeln war einladend, ihre Stimme sanft und tröstend, sodass die junge Frau sich immer wieder über mehrere Wochen mit ihr verabredete, um mit ihr über Mogli zu sprechen. Das junge Fräulein durfte miterleben wie die junge Frau von Woche zu Woche wieder gesprächiger, fröhlicher und unternehmungslustiger wurde. Von diesem Tag an wusste das junge Fräulein, dass sie die Künste des Traumtanzens erlernen wollte, um selbst einmal die Gabe zu besitzen traurige Herzen zum Tanzen zu bringen.

Das Herz des jungen Fräuleins war liebend, war zielstrebig und geprägt durch positive Herzenserfahrungen. So kam der Tag an dem sie alt genug war die Lehre des Traumtanzens zu studieren um dann den hohen Norden hinter sich zu lassen. Es zog in ein Land, wo man Ei und Speck jausnete und Schafe und Ziegen in den Vorgärten grasten. Erschüttert musste das junge Fräulein feststellen, dass es in dem fernen Land nur zwei Traumtänzer gab. In jenem Land hauste nämlich ein pedantischer Schatzmeister. Seine Goldtaler verließen nur die Schatzkammer, wenn ihm ein versiegeltes Pergament, dessen Inhalt von hoher Überzeugungskraft gewesen war, vorgelegt wurde. Dem jungen Fräulein war bewusst, die Lehre des Traumtanzens allein würde es nicht weit bringen, ebenso wenig wie das Lied vom Anderssein, oder eine Melodie auf einer feinen Zedernholzgitarre. Auch Milch und Zimtschnecken würden den Schatzmeister nicht überzeugen können. Während das junge Fräulein tagein und tagaus in ihrem Kämmerchen nachdachte und Pergament für Pergament vollkritzelte und wieder verwarf, kam eine weiße Taube zu ihm ans Fensterbrett geflogen, die aufgeregt gurrte. Das Vögelchen verriet ihm, dass seine Herrin nach einer Traumtänzerin suche, die mit Geschick und Scharfsinn den Schatzmeister davon überzeugte, dass es mehr als zwei Traumtänzer für die Schulen in seinem Land bräuchte. An jenem lauen Sommerabend strahlte das Herz des jungen Fräuleins ebenso kräftig, wie die Herbstsonne an seinem ersten Schultag, denn es wusste, nun war die Zeit gekommen, seinen Herzenswunsch unerlässlich zu verfolgen. Über die Zeit lernte das junge Fräulein die Traumtänzer des Landes zunehmend besser kennen, ebenso wie die Schulen, in denen sie junge Herzen zum Tanzen brachten. Wenn das junge Fräulein eine Audienz bei den Schulkönigen hatte, packte sie Zimtschnecken ein, um sie mit dem glitzernden Flair des Hohen Nordens zu umwerben. Es gewann die Herzen der Schulkönige, ebenso wie die der jungen Wesen und täglich wurde es in seinem Herzenswunsch erneut bestärkt.

Schließlich kam der Tag an dem das junge Fräulein zu den Pforten des Schatzmeisters schritt. Im Gepäck hatte sie die Gabe des Daseins, das Geschick des Zuhörens, die Redekunst und allem voran ein akribisch ausgearbeitetes Schriftstück, welches genau für die sieben Schulkönige, mit denen sich das junge Fräulein oft zur Zimtschnecken- und Milchjause traf, angefertigt wurde. Mürrisch, aber dennoch aufmerksam lesend durchforstete der Schatzmeister das Schriftstück. Immer wieder blieb sein Blick an einem Pergamentstück haften, immer wieder zuckten seine Mundwinkel als würde er lächeln wollen. Gelegentlich räusperte er sich und schob seine Augengläser zurecht. Beim vorletzten Pergamentstück kramte er sogar eine golden umrahmte Linse hervor. Letztlich blickte er vom Schriftstück hoch, schüttelte die Hand des jungen Fräuleins kräftig, nickte ihr streng zu und wies sie zufrieden aus dem Schatzhof. Draußen blinzelte ihm die Sonne entgegen und die Vögel zwitscherten das Lied vom Anderssein. Sogar die Schafe und Ziegen am Wiesenrand blökten und meckerten mit und eine außergewöhnlich fröhliche Stimmung lag über dem fernen Land, für welches das junge Fräulein einst den hohen Norden hinter sich ließ.

Von diesem Tag an, immer zur selben Jahreszeit jausnete das junge Fräulein gemeinsam mit dem Schatzmeister Ei und Speck und als Nachspeise wurden Zimtschnecken und Milch serviert, um das Bündnis zwischen Schatzhof und Schulhof alljährlich zu besiegeln.

Jährlich flossen die Goldtaler in die Künste des Traumtanzens und immer mehr Schulkönige durften eine sagenumwobene Tür im ersten Stock des Schulgebäudes aufnehmen, hinter welcher die Traumtänzer traurige Herzen zum Tanzen bringen. Einst wurde sogar eine Reise zurück in die Heimat des jungen Fräuleins, arrangiert, um von der langjährigen Erfahrung im hohen Norden Wissen zu erwerben.

Einst ein kleines, aufgewecktes, braungelocktes Mädchen, sodann ein junges, scharfsinniges, einfühlsames Fräulein, heute eine angesehene, ambitionierte Frau, die ihrem Herzenswunsch gefolgt ist, und auf viele Jahre der Traumtanzkünste zurückblicken darf. Zwanzig Jahre in denen das Verhalten der jungen Wesen immer wieder neu beleuchtet wurde, die Pergamentstöße verbessert und ausgeschmückt wurden und sechs königliche Auszeichnungen für ehrenvolle Dienste und erfolgreiche Künste mit Herz und Verstand.

Mittlerweile ist für den Schatzmeister das Bündnis zwischen seinem Schatzhof und den Schulhöfen nicht mehr wegzudenken. Und wenn die Goldtaler weiterhin für die Herzen der jungen Wesen eingesetzt werden, dann tanzen die Träumtänzerinnen und Traumtänzer noch in den nächsten 20 Jahren.

Nicolina Bek, BA MA

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