30
April
2019

Perspektivenwechsel für mehr Achtsamkeit

In der Lebenswelt Schule treffen Kinder und Jugendliche auf ein sekundäres Bezugs-, Betreuungs- und Beziehungssystem. Viele Bindungstheoretiker bestätigen, dass auch die Beziehung zu sekundären Bezugspersonen bedeutend für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist. Diese bringen immer wieder Gefühle, Ängste, Sorgen und belastende Erlebnisse von zu Hause mit und zeigen sich im schulischen System „auffällig“. In der Schule gilt Schulsozialarbeit als wichtiger Ansprechpartner für soziale Problemlagen und andere herausfordernde Themenstellungen der Kinder und Jugendlichen. Schulsozialarbeit wird so viel Vertrauen von Seiten der Kinder und Jugendlichen geschenkt, dass sie in der Lage ist, etwaige Monologe, die in den Köpfen der SchülerInnen geführt werden, zur Sprache zu bringen. Dies wiederum ermöglicht einen Dialog mit den Kindern und Jugendlichen, um einerseits ein vertrauensvolles Beziehungsangebot zu stellen, andererseits aber auch bestmöglich in der inner- und weiterführend in der außerschulischen Lebenswelt der Kinder zu unterstützen und zu vermitteln.

Schulsozialarbeit präsentiert hier einen beispielhaften Monolog eines Schülers. Der innere Monolog soll einerseits die Botschaften, die hinter den offensichtlichen Verhaltensauffälligkeiten und dem Widerstand stecken, übersetzen und andererseits Einblick in die inneren „Gewitter“ von unbeachteten Kindern und Jugendlichen geben.

Ein Perspektivenwechsel kann ein Startschuss zum Dialog sein:

 

Innerer Monolog: Through the eyes of a child
Lebenswelt Schule – Ein Perspektivenwechsel

Er

Während ich die letzten Stufen hinaufgehe werden die Stimmen lauter. Obwohl ich bereits die Pausenhalle betreten habe, die erfüllt ist mit Lachen, drängen meine Stimmen die aufgeregten Klänge in den Hintergrund. Sie sagen mir: „Er hat es auf dich abgesehen. Mach ihn fertig.“ Ich weiß genau von wem sie sprechen. Er sitzt auf dem runden Tisch vor der Klasse. Rund um ihn scharen sich die anderen. Sie sind wie er. Sie feuern ihn an, sie himmeln ihn an. Er hat die Macht. Mein Gesicht verberge ich unter meiner Kapuze.

Du siehst mich nicht. Ich husche einfach schnell an dir vorbei. Nur keine Berührungspunkte. Setze dich auf den Platz und versuche ruhig zu atmen.

Ich versuche, die Stimmen abzuwehren. Mein Atem wird flacher als ich dem runden Tisch näherkomme. Ich spüre wie sich seine Blicke in meinen Rücken bohren, obwohl ich nicht zu ihm aufschaue. Ich höre höhnisches Lachen hinter mir. Plötzlich berührt mich jemand am Oberarm. „Zieh sofort die Schuhe aus! Kapuze runter!“ Die Lehrerin erinnert mich an die Schulregeln.

Scheiße, jetzt muss ich nochmal an ihm vorbei. Ich muss mein Gesicht zeigen. Ich kann es nicht. Ich will es nicht.

Wütend reiße ich mich los und hechte in Klassenzimmer. Die haben alle keine Ahnung. Ich würde ja die Regeln befolgen, aber dann müsste ich auch noch an ihr vorbei. Mein Spint liegt auf dem Weg zu ihrem Klassenzimmer. Sie würde mich wertlos und kalt anblicken. Nein sie würde mich nicht anblicken, sie würde direkt durch mich hindurchblicken als hätte ich kein Herz. Als wäre ich kein Mensch. Und die Kapuze, wieso versteht es niemand, sie schützt mich vor den Blicken. Sie ist wie ein Helm, der das Gelächter, die abwertenden Blicke und dieses alberne Kinderlachen abschirmt. Ich hasse es.

„Ich werde deine Eltern anrufen. Du schaffst es nicht einmal dich an die simpelsten Regeln zu halten!“, ruft die Lehrerin mir hinterher als ich panisch auf meinem Stuhl verkrieche.

Mir doch egal. Als würde das meine Eltern interessieren. Die kümmert es doch kein Bisschen, was ich mache. Und wenn ich totgeschlagen werde, das ist denen egal.

Die Klassentür geht zu, endlich Ruhe. Der Unterricht beginnt. Mathematik. Das interessiert mich genauso wenig, wie meine Eltern Interesse an mir zeigen. Ich versuche seinen Blicken zu entkommen. Obwohl wir nicht nebeneinandersitzen, starrt er mich an. Ich spüre es. Eiskalt ist er. „Tu jetzt sofort die Kapuze runter. Hast du noch nie etwas von Respekt gehört?“

Schon wieder diese Lehrerin. Die geht mir sowas von auf die Nerven. Hat die keine anderen Probleme. Die checkt gar nichts. Nicht mal im Traum werde ich die Kapuze runter tun. Soll ich mich ihm ausliefern, seinen Blicken, seinen Hohn, seiner Provokation. Es wird wieder gleich enden. Diesmal aber, werde ich ihn ruhigstellen. Ich habe trainiert. Er wird nicht mehr gewinnen.

„Geh jetzt raus. Ich dulde das in meinem Unterricht nicht. So kann ich nicht unterrichten.“

Was die Lehrerin schon wieder herumstresst, kann ihr doch völlig egal sein, ob ich die Kapuze trage oder nicht. Sie hat mir allerdings die Erlaubnis gegeben, das Klassenzimmer zu verlassen. Endlich kann ich ihm entkommen.

Wortlos stehe ich auf und gehe hinaus. „Nicht einmal zehn Minuten Unterricht und du bist schon draußen? Wieso bemühst du dich nicht?“

Die nächste Lehrerin die mir auf die Nerven geht. Was heißt hier nicht bemühen. Ich bemühe mich, seitdem der Wecker geläutet hat, ihm zu entkommen, ihr zu entkommen, meinem Leben zu entkommen.

Ich antworte ihr nicht und setze mich auf einen freien Sessel. Ich bin müde. Ich lege meinen Kopf auf den Tisch. „Du hast aber keine Freistunde. Mach den Mathe-Zettl, oder willst du wieder ein Jahr wiederholen? Wieso verstehst du nicht, dass du dir selbst dein Leben schwermachst?“

Jetzt redet die Lehrerin noch immer mit mir, dabei habe ich doch gar nichts gesagt. Ich bin doch ruhig auf dem Platz gesessen. Ich bin nur müde. Sie haben den ganzen Abend gestritten. Sich angeschrien, sich beschimpft, ich habe das Geschirr zerspringen gehört. Jedes Mal, wenn etwas zerbricht, spüre ich wie mein Herz dabei kaputt geht. Sie könnten einfach auseinanderziehen, wenn sie sich nicht verstehen. Ich würde bei beiden gleich oft bleiben. Ich liebe sie doch, auch wenn ich sie nicht interessiere.

Ich habe die Frühwarnung auf den Küchentisch gelegt. Mein Vater beschuldigt meine Mutter. Sie wäre an allem schuld, dass ich so ein Trottel bin. „Er ist genauso ein Trottel wie du, das kann er nur von dir haben“, schreit meine Mutter. Ich bin wirklich ein Trottel. Ich schaffe nichts. Ich weiß es. Aber es versteht mich niemand. Keiner hört mir zu. Die könnten einmal meinen Körper tauschen.

„Ich gebe es auf mit dir. Du willst dich ja gar nicht ändern!“ – die Lehrerin spricht immer noch. Ich weiß nicht was sie dazwischen gesagt hat. Ich habe zu viele Gedanken. Ich kann nicht mehr. Diese Stimmen, seine Blicke, seine Provokation. Ich mag nicht im gleichen Gebäude sein wie sie. Sie, mit ihren wunderschönen braunen Augen, dieser unglaubliche Duft, der sie umgibt. Sie hat mich bestimmt auch aufgegeben, weil ich so dumm bin. Ist eigentlich eh klar.

Die Lehrerin hat aufgehört, auf mich einzureden. Endlich. Ich schließe meine Augen. Im Hintergrund flüstern meine Stimmen immer noch. „Du bist so dumm. Ich wusste du schaffst es wieder nicht. Lass ihn nicht gewinnen. Schlag ihn nieder. Du musst das Blut sehen, dann wird er aufhören.“ …

Die Klassentüren schlagen gegen die Betonmauer. Scheinbar ist die Stunde aus. Hastig stehe ich auf und flüchte aufs Klo. Noch habe ich ihn nicht gesehen. Ich lasse kaltes Wasser über meine Hände laufen, sie sind heiß. Die Klotür geht auf. „Da bist du ja!“ Er steht direkt hinter mir. „Du versteckst dich? Hast du Angst vor mir? Ich mache doch nur Spaß.“ Ich möchte mich nicht umdrehen. Ich weiß wie er mich ansehen wird, mit diesen starren Augen, die sich bis in meine Knochen bohren. Er wird dabei lächeln, weil es ist alles nur Spaß. Ich brauche mehr Wasser, eiskaltes Wasser, bis in meine Hände pocht mein Puls. Ich bekomme kaum Luft. Was mach ich jetzt?

Er tritt mich in die Ferse. „Na komm schon du kleiner Hurensohn. Es passiert dir nichts. Schau mir in die Augen, wenn du dich traust.“ Ich versuche mich an ihm vorbei zu drängen. Er versperrt mir den Weg. „Hast du heute nichts zu sagen?“ „Geh mir aus dem Weg“, rufe ich. „Oh, hast du Angst du kleiner Wixer, machen wir 1 gegen 1. Du wirst wieder verlieren.“ Ich versuche seinen Arm von der Wand zu lösen, um vorbeizukommen, meine Stimmen schreien mich an: „Schlag ihn nieder, bis du das Blut siehst!“ Sein Arm ist wie festgefroren, er ist so stark. „Lasst mich in Ruhe!“, schreie ich alle gleichzeitig an, ihn und meine Stimmen. Er beginnt zu lachen. „Du bist so hoffnungslos. Du bist so ein Opfer. Ich fick deine Mutter!“

Plötzliche Stille. Mein Stimmen sind verstummt. Er sagt nichts mehr. Vor meinen Augen sehe ich tiefrotes Flackern. Meine Hitze hat sich verwandelt. Ich spüre klirrende Kälte, meine Hände sind kalt. Endlich sind alle einmal leise.

Die Klotür wird aufgerissen, zwei seiner Freunde stürmen herein und zerren mich an der Kapuze hinaus. Sie packen mich am Hals. Der eine hält mich so fest, dass ich meinen Puls nun in meinen Schläfen spüre. Ich ringe nach Luft. Der andere tritt auf mich ein. Auf einmal sind sie wieder überall. Aufgeregte Klänge. Alle schreien. Schon wieder. Immer schreien alle. Ich falle zu Boden, ich spüre wie mein Kopf auf den Boden schlägt. Es wird schwarz um mich. Stille.

Sie

Aufgeregt laufen sie zu mir. „Er hat ihn blutig geschlagen. Er war sogar bewusstlos! Dann haben die ihn rausgezerrt. Das ist am Klo passiert. Jetzt ist er auch bewusstlos. Komm schon. Wir müssen in die Pausenhalle.“

Scheiße. Jetzt ist er völlig durchgedreht. Seine Eltern haben sicher wieder gestritten. Der gestörte Junge kann ihn auch nicht in Frieden lassen. Ich muss zu ihm.

Sofort laufe ich mit ihnen in die Pausenhalle. Alle tummeln sich vor dem Klo. Die Lehrer versuchen sich durchzudrängen. „Ruft die Rettung!“, höre ich eine rufen. „Geht in die Klassen. Ihr habt Unterricht!“, ruft eine andere. Ich nähere mich dem Schülerauflauf. Ich dränge mich durch und sehe ihn am Boden liegen. Regungslos. Durch die halboffene Klotür sehe ich den gestörten Jungen liegen. Es läuft Blut über seinen Kopf. Der liegt ebenfalls regungslos am Boden. Alle schreien durcheinander. Ein Lehrer zerrt mich weg. „Geh sofort in deine Klasse!“ „Greif mich nicht an!“, schrei ich als ich mich von ihm losreiße. „Schrei mich nicht an und geh aus dem Weg!“, brüllt er. „Du schreist selbst du Idiot. Das ist mein Freund!“

Die schreien selbst und ich soll leise sein? Als ob ich in die Klasse gehe. Ich liebe ihn. Keiner darf es wissen. Mein Herz ist gebrochen. Lebt er noch? Sag doch was. Mach die Augen auf. Scheiße. Ich hätte ihn nicht verlassen dürfen. Nicht jetzt, wo seine Eltern noch mehr Stress machen. Ich bin schuld.

Meine Gedanken überschlagen sich, während ich zu Allah bete, dass er wieder aufwacht.

 

Abschlussworte

LehrerInnen haben den Auftrag, den Schülerinnen Wissen zu vermitteln. Bestenfalls tun sie das kreativ, flexibel, dynamisch und passgenau für die individuellen Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes, was eine große Herausforderung ist! Wenn LehrerInnen sich zusätzlich zum Bildungsauftrag auf weitere Lebenswelten und Themenstellungen, die aus dem außerschulischen Kontext in die Schule mitgebracht werden, konzentrieren und darauf eingehen sollen, stoßen sie immer wieder an ihre Grenzen. Dabei dürfen sie ihre Vorbildwirkung als Erwachsene im Schulsystem auch nicht vergessen.

Für eine gesunde Entwicklung ist das Gefühl von Empathie und Mitgefühl von achtsamen Personen in der Umgebung essentiell – sowohl sie von diesen zu spüren als auch sie zu selbst zu entfalten und zu vertiefen, um in den Kontakten und Beziehungen zu anderen Menschen positive Gefühle zu erlangen und Vertrauen wachsen lassen zu können.  Achtsame Fragen von Seiten der Erwachsenen geben den Kindern und Jugendlichen das Gefühl, beachtet zu werden:

Fragen Sie nach: „Wie geht es dir heute?
Fragen Sie nach: „Wie war dein Tag?
Frage Sie nach: „Was hast du heute gemacht?“

Sagen Sie den Kindern und Jugendlichen:

„Ich mag dich“
„Ich bin stolz auf dich“
„Du schaffst das“
„Schön, dass wir zusammen sind“
„Ich glaube an dich“
„Danke, dass du mir (…) erzählt hast“
„Das hast du gut gemacht“
„Trau dich, du kannst das!“

Haben Sie Spaß und nehmen Sie sich Zeit zum Spielen!

 

 

Quelle Achtsamkeitsstudie:

Ziegler, H. & Saalfrank, K. & Siggelkow, B. (2017): Achtsamkeit in Deutschland: Kommen unsere Kinder zu kurz?. Universität Bielefeld.

Presse-Information (2017): „Meine Eltern interessiert das nicht“: Jedes dritte Kind in Deutschland fühlt sich unbeachtet. Presse Beyer.

 

2 Antworten auf Perspektivenwechsel für mehr Achtsamkeit

  1. Ganz toll geschrieben. Man erkennt den “Praxisbezug”, aber auch, dass der Autorin die Kinder nicht egal sind, dass sie sich intensiv mit dem “Innenleben” der Kinder beschäftigt, dass sie die Probleme und Ängste von allen Seiten wahrnimmt. Ich hoffe nur, dass sie nicht in der Literatur ihre Zukunft sieht, sondern bei “ihren Kindern” bleibt. Sie brauchen sie, aber auch für uns LehrerInnen und LeiterInnen ist sie unverzichtbar.

    • sjensen sagt:

      ich bin mir sicher, dass die Kinder und Jugendliche ihre Priorität bleiben! Zwischendurch etwas schreiben tut auch gut : )

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